Verloren und Gefunden

12. Juni 2025
Quelle: Eigene Aufnahmen

Sie schaute aus dem frostigen Fenster. Ihre Gefühle reflektierten sich im Frost. Angst, Trauer und Ungläubigkeit fühlte sie in diesem Moment. Durch das Flugzeugfenster beobachtete sie unendlich viele Wolken. Neben ihr schnarchte ihr Vater. Sie stupste ihn, damit er aufwachte. Als das nicht funktionierte, sprach sie ihn an: «Papa! Sei leise, es befinden sich noch andere Menschen in diesem Flugzeug.» Er murmelte nur vor sich hin und schnarchte noch lauter als zuvor. «Ernsthaft!», sie fragte sich, wie es so weit gekommen war. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag ihr Leben verändern würde, aber nicht, dass es sich so unglaublich schmerzhaft anfühlen würde. Leise rollten ihr Tränen über das Gesicht, bis sie einschlief.

Als die Sonne unterging, tauchte sie die Insel in rötliche Farben. Ivy lachte auf, als ihre Freundin sie mit Meereswasser bespritzte. «Ich werde für immer bei dir bleiben!» «Ja ja, komm, wir können Kokosnüsse einsammeln!» Zusammen gingen sie über den weichen Sand zu den Palmen. Sie verbrachten den ganzen Abend dort, lachten viel und schliefen schlussendlich im Sand ein.

Erschöpft von ihrem Traum wachte Ivy auf. Nein, warte mal, dachte sie, das war kein Traum, sondern eine Erinnerung. Sie spürte einen Schmerz tief in ihrem Herzen und presste die Lippen zusammen. Jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, dass sie ihre Freundin zurücklassen musste, zog sich ihr Magen zusammen. Auch wenn ihre Eltern immer über die schulischen Vorteile sprachen, wollte sie nicht in die Schweiz ziehen. Doch sie konnte wenig Einfluss auf den Entscheid nehmen, auch wenn sie sich noch so viel beschwerte. Als Ivy, ihre Mutter und ihr Vater aus dem Flugzeug stiegen, gab es viele Leute, die fröhlich schwatzten. Sie selbst fühlte sich aber alles andere als fröhlich. Ivy nahm ihr Gepäck und lief ihren Eltern hinterher.

Während der Autofahrt schaute sie aus dem Fenster und begutachtete die unbekannte Landschaft. Blasse Bäume begrüssten sie. Es sah alles so düster und unfreundlich aus. Die dunklen Regenwolken liessen alles noch trauriger erscheinen. Ivy griff in ihre Tasche und fand die einzige Erinnerung ihrer geliebten Insel: ein Stück gewaschenes Glas, das sie einmal am Strand gefunden hatte.

«Wann sind wir endlich da Mama?», fragte sie.
«Schon bald, warum?»
«Nein, nichts, nur… wie sieht unsere neue Wohnung aus?»
«Sie ist klein, aber du hast dein eigenes Zimmer. Wir werden schon zurechtkommen. Mach dir keine Sorgen.» «Hmmm… okay.» Wieder einmal stiegen düstere Emotionen in ihr hoch.

«Oh, da wohnen wir also.» Sie starrte auf ein altes, heruntergekommenes Haus, das einen grossen Riss durch die Mitte hatte.
«Ja», sagte die Mutter. «Es ist nicht perfekt, aber es lag in unserem Budget.» Die Familie ging die Treppen hoch, in den obersten Stock. Langsam öffnete der Vater die Tür. Die Wohnung sah nicht schlecht aus, brauchte aber dringend eine Renovation.
«Dort ist dein Zimmer Ivy», sagte er. Sie schaute hinüber. Es befand sich ganz hinten in der Wohnung. Ivy schloss die Tür auf und trat ein. Es war nichts Spezielles, aber es hatte ein Bett.

Später in der Nacht, als sie in ihrem Bett lag, wusste sie nicht, was sie fühlen sollte. Das Mondlicht schien durch ihre Vorhänge. Sie blickte an die fremde Decke, wo das Mondlicht schimmerte. Sie wollte so gerne wieder zurück. Das Haus, die Umgebung und die Leute, nichts war ihr mehr vertraut. Trotz diesem Gefühlschaos gelang es ihr irgendwann einzuschlafen.

Beim Frühstück – der Vater las die Zeitung, das machte er sonst nie – wurde Ivy aus ihren Gedanken gerissen. «Ivy ich muss mit dir sprechen», sagte er.
Worum es wohl ging, fragte sie sich. Als sie ihr Gesicht verzog, sagte die Mutter: «Über deine neue Klasse.» «Aha», murmelte Ivy vor sich hin.
Ihre Mutter sprach weiter: «Wie du weisst, wirst du die sechste Klasse starten. Die Schulleitung hat uns eine Klassenliste gegeben. Hier, du kannst sie dir gerne anschauen.» Ivy beugte sich, um die Liste zu nehmen. «Deine Lehrerin heisst Frau Frey und ich weiss, dass wir gesagt haben, dass du die Schule erst nächste Woche anfängst, aber Frau Frey meinte, es wäre für dich besser, schon am Montag zu starten.» Ivy erstarrte; «Was? Das kann doch nicht wahr sein!» Ihre Emotionen wirbelten ihr durch den Kopf wie ein Sturm und sie verlor fast die Kontrolle. «Okay», sagte sie leise, aber mit gewisser Schärfe. Dann stürmte sie in ihr Zimmer.

Schule, wer hat Schule gerne – und obendrauf eine neue? Am Montag musste sie trotzdem hin. Ivy setzte sich ganz hinten ins Klassenzimmer. Ihre neuen Schulkameraden schauten sie an, als wäre sie ein Alien. Noch schlimmer war, dass sich die Lehrerin genau gleich zu verhalten schien. Nein, eigentlich noch schlimmer, sie tat so, als würde Ivy nicht existieren. Plötzlich klingelten die Glocken und alle Kinder rannten hinaus wie ein Sturm. Endlich, dachte Ivy. Als sie das Klassenzimmer verliess, spürte sie den Blick der Lehrerin auf ihrem Rücken. Ivy eilte nach Hause.

«Hallo Mama!» rief Ivy, als sie durch die Haustür kam.
«Wie war die Schule, Liebe?» Ivy wollte gerade antworten, dann merkte sie, dass ihre Mutter es noch nicht wissen musste. Die Klasse war zwar okay, da sie aber die Neue war, fühlte sie sich von den anderen Kindern beobachtet, aber nicht wirklich beachtet. Was ihr jedoch grössere Sorgen bereitete, war die Lehrerin. Immer wenn Ivy eine Frage nicht beantworten konnte, starrte Frau Frey sie an. Deshalb antwortete Ivy ihrer Mutter leise: «Ja, okay.» Sie erwähnte gegenüber ihren Eltern die neue, gemeine Lehrerin nicht, sondern wartete ab. Aber tief im Herzen wusste sie, dass sie es eigentlich tun sollte. Nur wollte sie unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern sich noch mehr Sorgen um sie machen würden.

In diesem Moment fasste Ivy eine Entscheidung. Schnell packte sie ihre Kleidung und als ihre Eltern beschäftigt waren, kletterte sie aus dem Fenster. Adrenalin pulsierte durch ihre Adern und sie sprang ins weiche Gras.

Als sie den Waldrand betrat, verlangsamte sie ihre schnellen Schritte. Der Wald roch noch nass, weil es am vorherigen Tag geregnet hatte. Die Äste und Blätter knirschten unter ihren Füssen, als sie den grossen Wald durchquerte. Sie schaute sich um. Es war dunkel, aber das letzte Sonnenlicht schien noch ein wenig durch die Blätter. Es wirkte magisch, ausserdem lag der Wald in tiefer Stille. Sie atmete tief durch und sank zu Boden. Schlussendlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten; sie weinte um alles, was sie verloren hatte. Sie spürte Emotionen wie Trauer, Enttäuschung und sogar Eifersucht. Als die Episode endlich vorbei war und sie sich beruhigte, hörte sie ein leises Geräusch. Ivy hielt den Atem an und erstarrte. Was war das? Plötzlich raschelten die Blätter, sie wollte instinktiv fliehen, aber sie entschied sich dagegen. Ivy atmete ein letztes Mal tief durch, sammelte ihren ganzen Mut zusammen und lief in Richtung des Geräusches. Wieder hörte sie dieses Geräusch, diesmal näher. Es klang wie ein Wimmern. Dann sah sie, zwischen den grünen Blättern, ein kleines Tier, das hilflos auf dem Boden ausgestreckt lag. Als sie näherkam, sah sie einen kleinen Schneehasen. Seine Pfötchen zuckten vor Schmerz und Angst. «Oh nein», sie kniete neben das Tier. «Wo sind denn deine Eltern, Kleiner?», sagte sie mit einer sanften, aber angespannten Stimme. Der Schneehase wimmerte wieder vor Schmerz auf und Ivy tröstete ihn, es nützte aber nichts. Der Atem des kleinen, niedlichen Tiers wurde zunehmend schlechter. Ivy stand auf, um Hilfe zu suchen. Der Wind wehte in ihren Haaren, als sie rannte. Niemand war da. Sie lief frustriert zurück. Das Tier wimmerte ein letztes Mal auf, dann wurde es still. «Nein, nein, nein, das kann doch nicht wahr sein!» Heisse Tränen liefen ihrem Gesicht runter. Sie hatte schon so viel verloren, nun nicht auch noch den Hasen. Sie weinte um das kleine, arme Tier, um ihre Freundin, um ihre Heimat.

Auf dem Heimweg fühlte Ivy noch immer den Schmerz – aber etwas hatte sich verändert. Der kleine Hase hatte sie an sich selbst erinnert: verloren, verletzt, hilflos. Und auch wenn sie ihn nicht retten konnte, hatte sie versucht, da zu sein.
Vielleicht war genau das, was zählte – dass man nicht aufgibt, auch wenn es wehtut. Dass man für andere da ist. Und für sich selbst.

Erst jetzt verstand sie: Die Welt würde nicht untergehen. Auch wenn das Leben nicht perfekt war, hatte sie etwas Wertvolles – ihre Familie.

Als sie schliesslich durch die Haustür trat, sah sie ihre Eltern, die schon auf sie gewartet hatten. Sie sagten kein Wort. Und Ivy musste nichts erklären.
Sie fiel ihnen einfach in die Arme und wusste: Der Anfang war schwer – aber es war nicht das Ende.